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Changewriting-Projekt
"Dann kannst du wieder Du sein"

Überfüllte Klassen, Lehrermangel und Störer im Unterricht – Lehrern fällt es schwer, Zugang zu den Problemen auffälliger Schülern zu finden. Tagebücher können das ändern: Der Verein Changewriters e.V. begleitet Projekte, in denen Schüler Tagebuch schreiben und entscheiden, wann es ein Lehrer lesen darf.

Von Natalie Putsche | 17.12.2018
    ARCHIV - Mehrere Schüler sitzen am 14.10.2014 im Gymnasium in Weingarten (Baden-Württemberg) im Deutschunterricht auf ihren Stühlen. (zu dpa: «Gymnasiale Oberstufe» vom 10.10.2017() Foto: Felix Kästle/dpa | Verwendung weltweit
    Ein Vertrauensverhältnis zwischen Lehrern und Schülern lässt sich im Schulalltag nicht immer aufbauen. Das Projekt Changewriting will das ändern. (dpa)
    Zeit fürs Tagebuch schreiben: Mittags im Changewriting Projekt an der Erich-Klausener Realschule in Dorsten. Ein paar Minuten vorher hat Bärbel Guske die Tagebücher aus einer Schublade des Lehrerpults geholt. Jetzt sitzen, mehr oder weniger konzentriert, zwölf Schüler einer geteilten 8. Klasse an ihren Einträgen. Der 14-jährige Len hat sich eher für sich, hinten an einen Tisch gesetzt:
    "Ich mochte es von Anfang an irgendwie nicht so, aber jetzt geht's eigentlich schon besser. Also weil ich halt nicht wollte, dass jeder was aus meinem Leben mitbekommt."
    Wirklich mit Schülern in Kontakt kommen
    Die Projektarbeit ist nicht freiwillig. Letztes Halbjahr war die andere Hälfte der Klasse dran. Es geht um Veränderung, wie der Begriff "Change" schon deutlich macht. Die Erfahrung hat gezeigt, dass sich Schüler durch das Schreiben öffnen und Lehrer, wenn sie die Tagebucheinträge lesen dürfen, etwas über die Lebensumstände des Schülers erfahren. Und dadurch besser auf den Schüler eingehen können. Es ist mittlerweile die 6. Projektstunde, erfahre ich von Bärbel Guske, die die ein bis zwei Stunden pro Woche betreut und in der Klasse normalerweise Deutsch unterrichtet:
    "Wenn ihr eure Tagebücher nach vorne bringt, vergesst nicht, sie zu markieren in grün, rot oder von mir aus auch gelb."
    Heute können die Schüler erstmals entscheiden, ob Guske den Eintrag lesen darf. Bärbel Guske hat eine "Changewriter"-Fortbildung gemacht. Ein bisschen auf der Suche nach Methoden, wirklich mit Schülern in Kontakt zu kommen:
    "Ich bin ja in die Klasse gekommen als Deutschlehrerin und hatte ziemliche Probleme, weil das ne ziemliche laute Klasse ist, sehr undiszipliniert. Ich glaube, dass mir dieses Projekt für meinen Deutschunterricht geholfen hat, relativ schnell eine gute Arbeitsbasis herzustellen."
    Mobbing, Rassismus, Gewalt
    Jörg Knüfken hat 2017 den Verein Changewriters e.V. gegründet. Während seiner Zeit als Schulsozialarbeiter hat er mit vielen schwierigen Schülern zu tun. Mehr durch Zufall fällt ihm der Film "Freedom Writers" in die Hände, nach einer wahren Geschichte über eine Lehrerin in Los Angeles, die ihre Klasse zum Tagebuch schreiben motiviert und dadurch Zugang zu den teils gewalttätigen Schülern bekommt. 2010 zeigt Knüfken den Film einer Gruppe von problematischen Schülern und verteilt anschließend leere Notizbücher. Die Jugendlichen fangen tatsächlich an zu schreiben:
    "Die schauten zu dem einen rüber: Na gut, der schreibt Tagebuch? Gut, dann schreib ich auch", so Knüfken.
    Nach und nach erfährt Knüfken mehr über die Schüler und ihre Lebenssituation:
    "Mobbing, Ausgrenzung, Rassismus, teilweise häusliche Gewalt, ganz viele Punkte von Demütigung."
    Über die Jahre mit dem Film und den Tagebüchern, entstehen viele persönliche Gespräche und Knüfken, dadurch motiviert, kombiniert das Schreiben mit Rollenspielen und Teamübungen. Manchmal reiche es schon aus zu wissen, ob ein Schüler sich um Geschwister kümmern müsse, oder nach der Schule jobben - die Schüler sichtbar machen und dadurch anders auf sie einzugehen.
    "Man schreibt ja, was man denkt"
    "Möglicherweise weniger Hausaufgaben aufzugeben, oder zu sagen: Mach nur noch zwei im Halbjahr, die und die kannst du in der Schule machen, und so hab ich eine Möglichkeit, eine Chance zu geben", so Knüfken.
    Auch Medina gilt als problematisch in ihrer damaligen Klasse, die Knüfken ebenfalls betreut:
    "Also am Anfang, ich hab so gedacht: Was soll mir ein Buch bringen? Mein erster Eintrag war vor drei Jahren. Und dann kamen die Tränen einfach, weil man wirklich so...man schreibt ja, was man denkt."
    Sie habe damals niemandem erzählt, dass ihre Mutter gestorben ist. Knüfken darf den Eintrag lesen. Es folgen Gespräche, das Vertrauen wächst. Auch Medinas Noten werden besser. Die 19-Jährige holt gerade ihren Realschulabschluss nach und glaubt, dass die Gespräche mit Knüfken und das Tagebuchschreiben ihr Gefühlschaos geordnet haben und sie sich habe zeigen dürfen:
    "Für mich war das Projekt sozusagen wie eine Belohnung. Zum Beispiel ich gehe zur Schule. Und wenn ich eine Woche durchziehe, dann ist wieder Projektzeit und dann kannst du wieder chillen, dann kannst du wieder Du sein."