Die Elternfrage: Sind mündliche Noten nicht ziemlich ungerecht? Wer 30 oder gar 200 Schüler unterrichten muss, kann wohl kaum erfassen, wer sich wie gut im Unterricht eingebracht hat. Und was sagen Sie dazu, dass meine Tochter trotz guter Testleistungen insgesamt immer wieder abgewertet wird, nur weil sie ein stiller Typ ist?

Es ist noch schlimmer, als Sie vermuten: Sogar die Noten unter den Klassenarbeiten spiegeln die Leistungsfähigkeit der Schülerinnen und Schüler keineswegs vollkommen gerecht wider. Da spielt deren Tagesform eine Rolle, oder es sind Formulierungen und Lösungswege nur schwer vergleichbar. Hinzu kommt, dass der Lernzuwachs eines Schwachen manchmal viel größer ist als der eines Überfliegers.

Erst recht ist eine gerechte Beurteilung mündlicher Beiträge keine einfache Sache; und bei 5 bis 10 Klassen zu je 30 Schülern misslingt sie gewiss auch gelegentlich. Deshalb teilen viele Lehrer diese Noten den Schülern vorab mit – um Irrtümer rechtzeitig korrigieren zu können. Zudem ist es in den meisten Bundesländern so, dass stille Schüler höchstens eine kleine Einbuße bei der Gesamtbeurteilung hinnehmen müssen. Denn das Mündliche wird lediglich als Teilbereich der "sonstigen Mitarbeit" gesehen. Dazu zählen auch häusliche schriftliche Leistungen, ergänzende Referate, die Unterstützung von Mitschülern etc.

Grundsätzlich halte ich es trotzdem für sinnvoll, die mündliche Mitarbeit im Unterricht als wichtigen Teil des schulischen Leistungsspektrums anzusehen: Die Schule soll ja nicht nur Wissen vermitteln und fachliche Kompetenzen anregen, sondern auch die kommunikative Auseinandersetzung mit dem Thema und in der Gruppe fördern. Und warum sollen Lehrkräfte über die Qualität der mündlichen Mitarbeit den Lernenden nicht auch Echo geben? Vernünftig wäre es allerdings, wenn Lehrer die Zeit bekämen, das wichtige Kurzfeedback "Gesamtnote" durch einen ausführlicheren Lernentwicklungsbericht zu ergänzen, und sei es nur per Ankreuzbogen.

Ermuntern Sie Ihre Tochter, sich einfach ab und zu im Unterricht zu melden – mit einer Frage, einer Idee, einem Hausaufgabenergebnis. Meines Erachtens spricht nichts dagegen, wenn ein stiller Mensch auch dazu angehalten wird, sich an Debatten zu beteiligen. Irgendwann ist sie eine junge Erwachsene und dann sollte sie doch nicht nur viel wissen, sondern sich damit auch überzeugend einbringen können.

Im Übrigen bin ich kein Freund einer festen 50/50-Aufteilung von Schriftlichem und Sonstigem. Absenkungen um eine ganze Note bei "Stillen" habe ich tunlichst vermieden. Umgekehrt habe ich eine Gesamtnote auch schon mal deutlich aufgewertet, wenn die schriftliche Leistung erkennbar durch Prüfungsangst beeinträchtigt, die sonstige Mitarbeit aber qualifiziert war.

Hier klingt auch eine allgemeinere Dimension Ihrer Frage an. Im Pädagogischen stößt der Gedanke formaler Gerechtigkeit nämlich an Grenzen. In Familie wie Schule geht es eben nicht primär um Gleichbehandlung, sondern darum, die Entwicklung jedes jungen Menschen zu fördern: so, dass er seine Potenziale möglichst gut entfalten kann. So werden sich sensible Eltern demjenigen ihrer Kinder eine Zeit lang besonders zuwenden, das sich nach der Geburt eines Geschwisters zurückgesetzt fühlt. Und ein feinfühliger Lehrer wird einen ängstlichen Schüler besonders verlocken, eine scheinbar zu schwierige Aufgabe anzugehen.