Nicht nur Jens Spahn ist besorgt über Masernausbrüche und Todesfälle durch diese Krankheit. Auch die EU-Kommission ist angesichts des ungenügenden Impfschutzes in Europa gegen die hoch ansteckende Krankheit alarmiert: 2017 hätten nur vier EU-Staaten die notwendige Impfrate von mindestens 95 Prozent erreicht. Die wäre erforderlich, um die Krankheit auszurotten. Vieles spricht also für eine Impfpflicht, die Spahn jetzt in Deutschland durchsetzen will. Ungeimpfte Kinder werden nicht nur selbst in Lebensgefahr gebracht, sie stecken auch Säuglinge oder kranke Menschen an, die nicht geimpft werden dürfen, aber besonders gefährdet sind. Die erste Impfung wird erst für Kinder ab knapp einem Jahr empfohlen, die zweite Impfung bis zum zweiten Geburtstag.

Wir können mit vielen Pflichten und Verboten heute gut leben: Wir rauchen nicht mehr in Büros und öffentlichen Gebäuden, weil wir dazu gezwungen wurden. Wir setzen – anders als noch vor Jahrzehnten – unseren Nachwuchs im Auto in einen Kindersitz und schnallen ihn an, weil das Pflicht ist. Warum sollte nicht auch die lebensrettende Impfpflicht gelten?

Schulpflicht geht vor Impfpflicht

Trotzdem ist sie problematisch. Weil es keine gute Art gibt, sie durchzusetzen. Spahn hat seinen Plan konkretisiert. Eine Geldbuße bis zu 2.500 Euro will er einführen. Die könnten sich zumindest die eher wohlhabenden Bildungsbürger wohl leisten, zu denen die rigorosen Impfgegner oft zählen. Darüber hinaus dürften ungeimpfte Kinder nach Spahns Willen aber die Kita nicht mehr besuchen. Und das ist ein ernsthaftes Problem. Denn es widerspricht dem, was unbedingt erwünscht ist: Alle Kinder sollen in die Kita gehen, weil sie längst als Bildungseinrichtung gilt, die für mehr Gerechtigkeit sorgt. Es gibt inzwischen auch ein Recht auf einen Kita-Platz. Und was würde dann mit den nicht oder unzureichend geimpften Schulkindern passieren? Spahn gibt zu, dass die Schulpflicht derartige Sanktionen verhindert. Gesundheit kann also schwerlich gegen Bildung ausgespielt werden.

Außerdem müssen offensichtlich gar nicht nur rigorose Impfgegner, die ihre Kinder gar nicht schützen, überzeugt werden. Aktuelle Zahlen des Robert Koch-Instituts zeigen, dass mehr als 97 Prozent der deutschen Kinder bis zur Einschulung die erste Masernimpfung erhalten hatten, mehr also als die erwünschten 95 Prozent. Diese Zahl wäre regelrecht großartig, wenn sie auch für Zweijährige und Erwachsene – und vor allem für den zweiten Pieks gelten würde. Die zweite Impfung ist nämlich wichtig, um den Schutz zu komplettieren, sie hatten aber nur knapp 93 Prozent der Schulkinder bekommen. Oft werden Eltern also einfach versäumt haben, zum Arzt zu gehen. Dagegen empfiehlt etwa der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte ein nationales Impfregister. Eltern würden dann rechtzeitig eine Erinnerung erhalten.

Es gibt noch weitere Ideen, die getestet werden könnten, bevor eine Impfpflicht samt Strafen eingeführt wird – und die trotzdem über die ewige Aufforderung nach mehr Aufklärung hinausgehen. Die Psychologin Cornelia Betsch empfahl im Interview eine Widerspruchslösung. Warum gehen Ärzte nicht in die Kitas und in die Schulen und führen die Impfungen, die die Eltern verpasst haben, dort durch? Diese müssten aktiv widersprechen und gute Gründe dafür anführen. Früher gingen alle Schulkinder etwa klassenweise zur Polioimpfung. Sie standen in der Schlange und mussten ein Stück Zucker schlucken, getränkt mit einem bitteren Zeug, fertig. Europa gilt seit 2002 als poliofrei. Bislang.

Denn zurzeit blicken alle wegen der Masernausbrüche auf diese Krankheit und reden kaum darüber, dass die Impfrate für andere Krankheiten abnimmt, etwa für Diphtherie, Tetanus, Keuchhusten oder eben Polio. Eine Impfpflicht für Masern könnte das womöglich noch verstärken: Betsch fürchtet, dass sich die Menschen angesichts einer Impfpflicht woanders "ihre Freiheit" wieder zurückholten. Dann würden die Kinder plötzlich etwa nicht mehr gegen Röteln geimpft, und das gefährdet auch viele Menschen.