Remo Largo: «Wir müssen das Konzept ‹Hotel Mama› dringend überdenken»

Im Zürcher Spielfilm «Wir Eltern» ergänzt der Kinderarzt Remo Largo ein aus dem Ruder laufendes Familienleben mit Kommentaren. Im Gespräch mit der NZZ betont er, diese Groteske spitze ein sehr ernst zu nehmendes Grundproblem zu.

Urs Bühler
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Remo Largo gibt direkt aus dem Badezimmer der Filmfamilie Ratschläge und Diagnosen ab: Szene aus «Wir Eltern». (Bild: PD)

Remo Largo gibt direkt aus dem Badezimmer der Filmfamilie Ratschläge und Diagnosen ab: Szene aus «Wir Eltern». (Bild: PD)


Herr Largo, hatten Sie keine Bedenken, im Spielfilm «Wir Eltern» mitzuwirken – als seriöser Experte in einem satirisch zugespitzten Umfeld?

Für mich war es ein Experiment, ich wusste anfangs wenig darüber, wie der Film herauskommen würde. Aber ich bedaure das Mitmachen überhaupt nicht. Denn es steckt ein grosses gesellschaftliches Problem dahinter, das man diskutieren sollte: In unserer Zeit haben wir die unnatürliche Situation, dass junge Erwachsene viel zu lange daheim wohnen. Dabei würde es doch einen Schnitt brauchen.

«Kinder fallen nicht von Bäumen, wenn sie früh hinaufklettern dürfen»: Remo Largo fordert seit Jahrzehnten mehr Selbstbestimmung für den Nachwuchs. (Bild: Keystone / Gaëtan Bally)

«Kinder fallen nicht von Bäumen, wenn sie früh hinaufklettern dürfen»: Remo Largo fordert seit Jahrzehnten mehr Selbstbestimmung für den Nachwuchs. (Bild: Keystone / Gaëtan Bally)

Früher gab es das doch auch, dass junge Erwachsene lange daheim lebten?

Klar, bei Bauern oder in Familienbetrieben. Und man kann bei Gotthelf nachlesen, was für Konflikte das gab, bis zum Totschlag. Aber im Normalfall heiratete man früh, hatte früh Kinder.

Kennen Sie ein Beispiel von Eltern, die wie im Film geflohen sind aus der eigenen Wohnung?

Nein. Nicht die Eltern sollten natürlich gehen, sondern die Kinder. In der Pubertät wird die Bindung aufgelöst. Der Jugendliche ist emotional nicht mehr von den Eltern abhängig und lässt sich von ihnen nichts mehr sagen. Die Ablösung ist ein normaler Vorgang, den man bei Katzen und Hunden auch sieht, und er ist für Eltern mit einem Kontroll- und Liebesverlust verbunden.

Das war früher doch auch so?

Aber früher wurde der junge Erwachsene zum gleichwertigen Mitglied mit entsprechenden Verantwortungen, oft durch ein Ritual initiiert. In vielen Kulturen schickte man sie weg, bei uns die jungen Frauen ins Welschland. Heute wird die Abhängigkeit vom Elternhaus nicht selten über das dreissigste Lebensjahr hinaus verlängert; das schafft Konflikte und macht unselbständig. Die Gesellschaft müsste mehr Wohngemeinschaften für junge Menschen ermöglichen.

Ist in der Pubertät der Zug abgefahren, was die Erziehungsarbeit durch die Eltern betrifft?

Das kann man wohl sagen. Es braucht zwar schon noch Erziehung, aber durch andere Bezugspersonen, wie Lehrmeister und vor allem Gleichaltrige.

Wie sollen sich Eltern denn verhalten in dieser Phase?

Sie behandeln ihre Söhne und Töchter wie Erwachsene, im Bewusstsein, dass sie es nicht sind. Begegnet man ihnen nicht auf Augenhöhe, behandelt sie immer noch wie Kinder, werden sie renitent.

Die älteren Söhne im Film kiffen: Was können Eltern da tun?

Das ist ein Paradebeispiel, wie machtlos man in der Phase ist. Ich habe mir die folgende Strategie zurechtgelegt: Meinen Töchtern sagte ich immer meine Meinung, etwa übers Kiffen, und fügte dann an: «Was du aber machst, dafür bis du allein verantwortlich.»

Was sind die Hauptgründe dafür, dass Kinder gehorchen oder eben nicht gehorchen?

Da gibt es unterschiedliche Ansichten. In der schwarzen Pädagogik ging man davon aus, dass man Grenzen setzen und bestrafen muss, damit sie gehorchen. Das ist Unsinn. Kinder gehorchen zumeist aus sich heraus, weil sie sich an ihre Bezugspersonen binden, emotional von ihnen abhängig sind, ihre Liebe nicht verlieren wollen. Ohne diese Bindung wäre die Erziehungsarbeit ein einziger Albtraum. Eigentlich folgen Kinder fast immer. Uns bleiben aber vor allem diejenigen Situationen in Erinnerung, in denen sie es nicht tun.

Der Vater droht in «Wir Eltern» dem Sohn, ihn rauszuwerfen. Dieser meint sinngemäss, er habe das schon zu oft gehört, ohne dass etwas passiert sei. Sind Drohungen ohne Folgen Gift für eine erfolgreiche Erziehung?

Klar, das ist reine Hilflosigkeit. Man muss sich vorher überlegen, was die Konsequenz ist und ob man sie durchsetzen kann. Schon bei den kleinen Kindern ist das so. Kann man sich nicht durchsetzen, wird man selbst für ein dreijähriges Kind unglaubwürdig.

Wie wichtig ist eine lange Präsenz der Eltern – ist «quality time» das Zauberwort?

Das ist Augenwischerei, eine Ausrede für Eltern, die keine Zeit haben. Zeit ist etwas vom Wichtigsten, was Eltern Kindern geben können. Ein Kind kann nicht allein sein. Punkt. Es muss jederzeit Zugang zu einer vertrauten Person haben. Das muss nicht unbedingt ein Elternteil sein, aber immer eine Bezugsperson, die seine Bedürfnisse kennt und befriedigt. Der Zeitfaktor hat auch einen direkten Einfluss auf den Erziehungserfolg: Wenn ich jeweils erst am Abend von der Arbeit heimkam, konnte ich mein Kind nicht zurechtweisen – es hätte dies als Ablehnung empfunden. War ich aber ein ganzes Wochenende mit ihm zusammen, konnte ich mich durchsetzen: Ich hatte dann eine vertrauensvolle Beziehung zum Kind.

Was ist aus Ihrer Sicht die erstrebenswerte Definition einer erfolgreichen Erziehung?

In der Leistungsgesellschaft heisst das in erster Linie, dass der Nachwuchs später erfolgreich ist in der Wirtschaft. Schon in der Schule soll er vorbehaltlos alle Anforderungen akzeptieren. Für mich hat eine kinderorientierte Erziehung ein anderes Ziel: Jedes Kind soll zum einzigartigen Wesen werden, das in ihm angelegt ist. Unsere Aufgabe als Eltern, Erzieherinnen und Lehrer ist es, die Umwelt so zu gestalten, dass das Kind die notwendigen Erfahrungen machen kann, um seine Fähigkeiten zu entfalten – und zwar selbstbestimmt. In unserer Gesellschaft aber sind Kinder wie Erwachsene in extremem Ausmass fremdbestimmt. Der Einzelne hat verinnerlicht, dass er widerspruchslos Anforderungen erfüllen muss. Er weiss aber nicht, wer er ist.

Hat der Mensch heute nicht mehr Freiheiten denn je?

Ja, man kann wählen, aber wenn man sich entschieden hat, ist man fremdbestimmt, etwa bei der Arbeit. Meine Vorstellung von Freiheit aber, nämlich dass ein Kind sich möglichst selbstbestimmt entwickeln kann, setzt das Grundvertrauen der Eltern voraus, dass es sich entwickeln will. Viele denken, es werde nichts aus ihm, wenn sie nicht ständig hinter ihm her seien. Jedes Kind will sich entwickeln, aber in seinem Tempo und auf seine Weise. Und es wird weder selbstbestimmt noch kompetent, wenn es nicht schon in den ersten Lebensjahren gewisse Erfahrungen machen kann. Kinder fallen nicht von Bäumen, wenn sie früh hinaufklettern dürfen. Tun sie es aber erst mit acht Jahren, habe auch ich Angst um sie.

Sind Eltern, die nicht ständig das Beste für ihr Kind wollen, die besseren Eltern?

Die Gretchenfrage ist: Was ist das Beste? Hinter dem ganzen Förderwahn steckt ja die Annahme, das Kind werde besser, je mehr man in dieses hineinbuttere. Man kann aber kein Kind über sein Entwicklungspotenzial hinaus fördern. Versucht man es dennoch, beschädigt man seine Lernmotivation.

Im Film wird dieser Bereich persifliert, indem die Eltern ein Konzept für die Maturaarbeit für den Nachwuchs erstellen.

Ich kann darüber nicht lachen. Leider ist das in vielen Familien Realität.

Ins Groteske gedreht wird es, indem Vater und Mutter sozusagen im Wettbewerb stehen, wer von den beiden diese Arbeit besser erledigt.

Leistungsdenken pur, das finde ich eine toll gewählte Übertreibung.

Wir leben halt in Zeiten der Selbstoptimierung, auch bei Jugendlichen ist dieser Imperativ verbreitet.

Ja, und es führt dazu, dass immer mehr Jugendlich abhängen. Laut Pisa-Studie ist ein Sechstel mit 15 Jahren beim Lesen und Schreiben oder im Rechnen auf der Stufe der 4. bis 5. Klasse stehengeblieben. Die Schule hat da nicht versagt. Der Grund ist: Alle Fähigkeiten sind viel unterschiedlicher angelegt, als wir wahrhaben wollen. Schüler mit einer niedrigen Lesekompetenz gehen während zig Jahren in die Schule und wissen jeden Tag beim Aufstehen: Ich schaffe es nicht, ich bin ein Versager. Und so haben wir immer mehr Jugendliche mit sehr niedrigem Selbstwertgefühl, die abhängen.

In einem Statement im Film orten Sie eine allgemeine Verunsicherung. Inwiefern?

Damit bin ich längst nicht allein, vor allem Soziologen stellen das fest. Ein wichtiger Grund, weshalb Eltern einen enormen Druck auf Kinder ausüben, ist eine existenzielle Verunsicherung. Dahinter steckt das Gefühl, der jetzige Wohlstand habe ein Plateau erreicht, von nun an werde es nur noch abwärtsgehen. Diese Angst übertragen Eltern auf ihre Kinder, und das spiegelt sich auch im Bildungswesen. Den Wahnsinn des Lehrplans 21 kann man nur so verstehen. Da sind Hunderte von Kompetenzen aufgelistet, die Kinder erwerben müssen, um bestehen zu können. Es ist schlicht verantwortungslos.

Der Tod des Grossvaters bringt im Film berührenderweise kurz so etwas wie Normalität ins Familienleben, da alles andere vorübergehend sekundär ist. Haben heutige Familien vielleicht zu wenige solche einschneidenden, gemeinsamen Erfahrungen?

Die Szene hat mich auch sehr berührt. Kinder und Erwachsene sollten sich geborgen und angenommen fühlen. Dies setzt vertrauensvolle Beziehungen voraus, und diese sind ohne Zeit nicht zu haben. Das gilt für die Familie ebenso wie für die Schule und die Freizeit. Viele Kinder und Jugendliche haben viel zu wenig Gelegenheit, gemeinsame Erfahrungen zu machen und so sozial kompetent zu werden. Sozialkompetenz erwirbt man nicht über das Chatten, über stundenlangen Umgang mit sozialen Netzwerken, sondern nur in realen Begegnungen. Ein befreundeter Lehrer ist mit seiner Sekundarklasse über die Alpen gewandert. Unglaublich, was da passierte: Das Handy wurde nicht mehr gebraucht, Äusserlichkeiten wie Kleider, Schminke und Frisur wurden nebensächlich. Die Jugendlichen sprachen stundenlang miteinander, lernten Konflikte auszutragen und sich gegenseitig zu helfen. Im Tessin angekommen, hatten sie sich ein vertrauensvolles Beziehungsnetz geschaffen.

«Wir Eltern» ist ja insgesamt nicht gerade ein Werbespot fürs Kinderbekommen. Und gemäss einer darin zitierten Studie sollen Eltern am glücklichsten sein vor der Erfüllung des Kinderwunschs – und nachdem der Nachwuchs das Haus wieder verlassen hat. Geht Elternsein auf Kosten des Glücklichseins?

Solche Aussagen machen mich tieftraurig. Ja, Kinder aufzuziehen, ist eine Belastung, aber auch eine grosse Befriedigung und gibt unserem Leben Sinn. Ich vermute, die zitierten Einschätzungen verweisen eher auf ein weiteres grosses gesellschaftliches Problem: die Kleinfamilie, sie ist eine Überforderung. Die Natur geht nicht davon aus, dass Elternpaare oder gar -teile die Kinder ohne Unterstützung aufziehen. In der Vergangenheit war die Familie immer in eine Lebensgemeinschaft eingebunden. Da gab es weitere Bezugspersonen, die bei der Betreuung mitgeholfen haben, und vor allem viele andere Kinder, die essenziell für die Entwicklung eines Kindes sind. Beides fehlt leider heute oft, was viele Eltern überfordert.

Dennoch denken viele Paare mit Kinderwunsch, dessen Erfüllung mache ihr Glück erst komplett.

Zu Recht.

Aber lädt dem Kind nicht unbewussten Druck auf, wer erwartet, dass es dem Leben der Eltern Sinn stiftet?

Das führt uns noch zu einem anderen Problem. Früher kamen Kinder schicksalshaft auf die Welt, heute sind schätzungsweise vier von fünf ein Wunschkind. Das geht bei gewissen Eltern mit hohen Erwartungen einher: Sie wollen kein Durchschnittskind, sondern ein hochbegabtes Kind. Eine solche Einstellung finde ich höchst bedauernswert, denn jedes Kind will nur eines: sich selbst sein.

Wie lauten denn nun Ihre Diagnose und Ihr Therapievorschlag für diese Filmfamilie?

Schauen Sie, Pubertieren ist konflikthaft per se. Wenn es einfach und schlank durchgeht, ist das eher beunruhigend. Im Film werden ganz normale, alltägliche Pubertätsprobleme übertrieben dargestellt. Der Hintergrund ist jedoch ein sehr ernster: Das Konzept «Hotel Mama» mit Nesthockern bis dreissig müssen wir dringend überdenken.

Remo Largo in «Wir Eltern»

urs. · Einen ziemlichen Spagat haben sich die Schriftstellerin Ruth Schweikert und der Filmemacher Eric Bergkraut da ausgedacht: In ihrer eigenen Wohnung im Zürcher Hürlimann-Areal, mit den eigenen Söhnen Orell, Elia und Ruben und mit knappem Budget haben sie einen Spielfilm gedreht, der die Nöte des Elterndaseins überspitzt und fiktionalisiert. Der Dreh war letzten Frühling, im August feierte man schon Premiere in Locarno, wo der Ansturm auf die Vorstellungen gross war und der Film zum Festivalgespräch wurde. Er läuft diese Woche in den Kinos an.

Der ins Absurde kippende Plot in Kürzestfassung: Einem in der Erziehung nach bestem Wissen und Gewissen bemühten Elternpaar – ausser Schweikert spielen alle Familienmitglieder selbst mit – setzen die knapp zwanzigjährigen Zwillingssöhne in der Familienwohnung derart zu, dass es mit seinem Nachzügler flieht. Die gelungene Balance zwischen Leichtigkeit – der Soundtrack etwa bringt einen Hauch Woody Allen ins Spiel – und pseudodokumentarischer Beklemmung sorgt dafür, dass einem das Lachen regelmässig im Halse steckenbleibt. Als eine Art antiker Chor wirken reale Experten, die das Geschehen inmitten des Chaos kommentieren: Theoretische Exkurse auf dem Badewannenrand liefert etwa der 75-jährige Remo Largo, auf Entwicklungsfragen spezialisierter Kinderarzt und Buchautor («Babyjahre», »Kinderjahre», «Jugendjahre»). Zusammen mit der Filmcrew ist er am 8. Oktober bei einer Vorführung im Lunch-Kino des Zürcher «Le Paris» anwesend.