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Debatte Essay

Pädagogische Moden bringen Schüler nicht weiter

Inklusion, Selbstlernen, ein freundlicher Umgang miteinander – das allein bringt niemanden zum Abitur. Das konservative Leistungsprinzip ist besser als sein Ruf

Wenn man sich heutzutage im Lehrerzimmer zu einer konservativen Pädagogik bekennt, hat man einen schweren Stand. Den vorwiegend jungen Kollegen gehen die Floskeln einer linken Pädagogik flüssig von den Lippen: Kinder aller Begabungen in einer Klasse? Kein Problem! Das Leistungsprinzip im Unterricht? Wichtiger ist ein freundliches Lernklima! Der pädagogische Mainstream, der seit Jahren den gesellschaftlichen Diskurs über Bildung prägt, hat sich auch in den Köpfen vieler Lehrkräfte eingenistet. In den täglichen Gesprächen im Lehrerzimmer kann man dann aber Erstaunliches vernehmen. Wenn ein Mathelehrer erschöpft aus der 8b kommt und klagt: „Wie haben die es nur aufs Gymnasium geschafft?“, gerät die Verheißung vom „längeren gemeinsamen Lernen“ offensichtlich an ihre Grenzen. Spätestens beim mittleren Schulabschluss und vor allem im Abitur kehrt auch das Leistungsprinzip mit Macht zurück. Freundlicher Umgang mit Schülern – eigentlich eine Selbstverständlichkeit – hilft den Schülern nicht über diese Hürden hinweg.

Viel Unaufrichtigkeit ist im Spiel, wenn Lehrer eine „fortschrittliche“ Pädagogik verteidigen. Oft klingt es, als wolle man sich partout zu den angesagten pädagogischen Moden bekennen, weil es als anstößig gilt, als konservativ wahrgenommen zu werden. Mich amüsiert diese Schizophrenie: In der Theorie tickt man links, in der Praxis neigt man dann doch zu altbewährter Praxis. Vielleicht hatte der große konservative Denker Joachim Fest recht, als er sagte: „Die Wirklichkeit ist immer konservativ.“

Ich habe mit dem Bekenntnis zu einer konservativen Pädagogik keine Probleme. 35 Jahre Unterrichtstätigkeit an verschiedenen Schulen haben mich gelehrt, dass die als fortschrittlich gepriesenen didaktischen Methoden das Elementare des Bildungsprozesses gar nicht verändern können. Unterrichten ist in erster Linie eine Interaktion zwischen Menschen: Die Lehrkraft führt ihre Schüler mit fachlichem Wissen, mit Leidenschaft für den Gegenstand und mit dem Gewicht ihrer Persönlichkeit durch die wunderbare Welt des Wissens. Ob dieser Weg von den Schülern holprig oder leichtfüßig zurückgelegt wird, liegt in erster Linie am Geschick des Lehrers, an seiner Ausstrahlung und seiner Überzeugungskraft – natürlich auch an seiner Fähigkeit, das immense Weltwissen „mundgerecht“ zu vermitteln. Während linke Pädagogen immer die Wichtigkeit der Schulform betonen, in die ein Schüler eingeschult ist, beharrt der Konservative auf dem Primat des persönlichen Bezugs. Dieser ist an einer Problemschule in Berlin-Neukölln genauso wichtig wie am elitären Hamburger Johanneum. Jeder Schulleiter wird diese Einsicht bestätigen.

Im Gespräch mit Gymnasialdirektoren kann man erfahren, dass der Unterschied im Englischunterricht zwischen zwei Parallelklassen mitunter ein halbes Schuljahr betragen kann. Der einen Lehrkraft gelingt es blendend, die Schüler für die Fremdsprache zu begeistern. Die andere quält sich uninspiriert durch die Kapitel des Lehrbuchs. Die Höchststrafe für Schüler ist ein Mathelehrer, der die Rechenoperationen nicht erklären kann. Damit treibt er die Schüler zur Verzweiflung – und in die Welt von YouTube. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass sich die Schüler, die am Vormittag mit Selbstlernmethoden traktiert werden, zu Hause den gekonnten Vortrag eines YouTube-Lehrers gönnen, der die Sachverhalte so anschaulich erklärt, dass der Groschen schließlich fällt. Diese Abstimmung per Mausklick für den viel gescholtenen Frontalunterricht sollte den Fortschrittsfreunden zu denken geben.

Dem Konservativen ist es wichtig, dass die Schüler Wissen als etwas begreifen, das über das Know-how hinausgeht, das man für den späteren Beruf benötigt. Etwas zu wissen, ist ein Wert an sich, ein geistiger Schatz, der die Persönlichkeit prägt und das Leben bereichert. Ein konservativer Pädagoge wird immer die Zweckfreiheit des Wissens gegen reine Funktionalität verteidigen. Dabei macht er keinen Unterschied zwischen den gymnasialen Fächern. Eine Fuge von Bach analysieren zu können ist genauso wichtig, wie die Keplerschen Planetengesetze zu verstehen. Ein Bild von Rembrandt deuten zu können besitzt den gleichen Wert wie die Interpretation eines Gedichtes von Friedrich Hölderlin.

Zweckfreiheit der Bildung bedeutet immer, sich dem Eigenwert des jeweiligen Gegenstandes auszuliefern. Ein Impromptu von Schubert am Klavier zu spielen hat seinen Zweck in sich, bedarf keiner weiteren äußeren Zweckbestimmung. Deshalb gehören auch die „toten“ Sprachen Latein und Altgriechisch selbstverständlich zum Bildungskanon. Sie zu studieren ist einfach „schön“. Sie zu lernen sollte nicht unter den Rechtfertigungszwang gesellschaftlicher Zweckbestimmung gestellt werden. Von dem romantischen Dichter Jean Paul stammt das schöne Wort: „Was für die Zeit erzogen wird, das wird schlechter als die Zeit.“ Der Dichter wusste, dass eine gute Bildung immer einen geistigen Überschuss, eine kleine utopische Verheißung über das Alltägliche hinaus enthalten muss.

Eine konservative Pädagogik setzt bei den Unterrichtsinhalten auf Exzellenz, weil nur das Beste bildet. Schülern sollte man Hochwertiges bieten und Anspruchsvolles zumuten. Viele moderne Lehrpläne scheuen die Vermittlung schwieriger Kost, weil sie in anspruchsvollen Inhalten eine Bedrohung der sozialen Gerechtigkeit sehen, die inzwischen zum wichtigsten Paradigma staatlicher Schulbildung geworden ist. Weil es nicht allen Schülern vergönnt ist, im Elternhaus mit Büchern und intellektuellen Gesprächen aufzuwachsen, schraubt man lieber die Ansprüche für alle herunter und setzt die Schüler auf fachliche Magerkost.

Im Fach Deutsch wäre deshalb ein verbindlicher Kanon hochwertiger Literatur sinnvoll. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass sich gerade Schüler aus bildungsfernen Elternhäusern von den Werken unserer Hochkultur anstecken lassen. Ich habe Schüler eingeladen, mit mir eine Aufführung von Bachs „Matthäuspassion“ oder von Schillers Drama „Wallenstein“ zu besuchen. Gerade das vollkommen Fremde hat sie überwältigt und veranlasst, der Wirkung dieser Werke auf die eigene Gefühlswelt nachzuspüren.

Ein konservativer Pädagoge hat keine Probleme dabei, Schüler zu Höchstleistungen anzuspornen. Das Leistungsprinzip in der Schule ist für ihn nicht obsolet, sondern ein selbstverständliches Element aller menschlichen Bemühungen. Es ist keinesfalls so, dass Kinder und Jugendliche Leistung verabscheuten. Wer einmal Kinder beobachtet hat, wie sie stundenlang wie besessen Puzzles zusammensetzen oder Lego-Burgen bauen, wird bestätigen, dass Kinder durchaus leistungsorientiert sein können – aber nur, wenn sie die Sinnhaftigkeit ihres Tuns einsehen und dabei Freude empfinden. Dieser emotionale Aspekt der Leistung geht im schulischen Lernen leider allzu oft verloren, weil die Lernarrangements langweilig und die Stundenabläufe routiniert und wenig inspirierend sind. Deshalb ist es die Aufgabe der Lehrkraft, die Lerngegenstände so zu präsentieren, dass die Schüler „Feuer fangen“ und schon aus Interesse an der Sache bereit sind, sich anzustrengen.

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Bei den Vorbehalten gegen das Leistungsprinzip in der Schule sollte man eine historische Dimension nicht vergessen. Bis ins frühe 20. Jahrhundert wurden gesellschaftliche Positionen nicht nach Leistung, sondern nach der familiären Herkunft vergeben. Der Aufstieg des Bürgertums und sein Kampf gegen Adelsprivilegien wären undenkbar ohne das Pochen auf Leistung. Das Prinzip der Bestenauslese ist in unserer Wissensgesellschaft unverzichtbar.

Der konservative Pädagoge schätzt das Unterrichtsgespräch über alle Maßen. Es ist für ihn der Inbegriff des Pädagogischen. Dabei weiß er, dass er sich damit gegen einen mächtigen Trend stellt. Es ist nämlich ein gerne gepflegtes Vorurteil, das vom Lehrer gelenkte Unterrichtsgespräch sei identisch mit dem notorischen Monologisieren, mit dem die Studienräte früher ihre Schüler traktiert haben. Weit gefehlt. Das Unterrichtsgespräch ist eine anspruchsvolle Lernmethode, die, wenn sie vom Lehrer beherrscht wird, zu spannenden und lehrreichen Unterrichtsstunden führen kann. Im Dialog führt der Lehrer die Schüler an den Lernstoff heran, lässt sie an den Überraschungen und Zumutungen teilhaben, die er bereithält. So entstehen echte Bildungserlebnisse.

Bei der Würdigung des Unterrichtsgesprächs sollte man einen gesellschaftlichen Aspekt nicht außer Acht lassen. Das Gespräch ist eine uralte, von den griechischen Philosophen erfundene Methode der geistigen Auseinandersetzung. Sie wussten, dass man im Austausch mit den Gedanken anderer selbst am besten denken kann. Die Philosophen und Literaten des 18./19. Jahrhunderts wählten das Gespräch im Freundeskreis – im „Salon“ –, um sich ihrer eigenen Gedanken zu vergewissern und sie notfalls durch die Kritik der Freunde zu korrigieren.

Das Gespräch in einer Schulklasse trägt, wenn es denn funktioniert, sehr zum inneren Frieden in der Klasse bei. Es hat eine zivilisierende Wirkung, die mit Hinblick auf die Festigung demokratischer Einstellungen bei den Heranwachsenden nicht zu unterschätzen ist. Es wäre wünschenswert, wenn künftig in der Pädagogik das kluge Wort des Philosophen Odo Marquard Beachtung fände: „Das Neue ist gegenüber dem Bestehenden begründungspflichtig.“

Der Autor unterrichtete an einem Berliner Gymnasium Deutsch und Geschichte.

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