Gastbeitrag

Homeschooling – Kinder entscheiden selbst

Heimunterricht erfährt in Zeiten der Corona-Krise zwangsläufig eine Renaissance. Doch Druck ist ein schlechter Ratgeber – vielmehr sollten Schüler selbst über ihr Lernen entscheiden dürfen. Von Prof. Dr. Ulrich Remus und Boris Gloger.

23.03.2020 Bundesweit Artikel
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Chaos im Home Office: Zwei Kinder buhlen um Aufmerksamkeit, während der Papa mit dem Kollegen aus Übersee telefoniert. Im Nebenzimmer schlägt die Mutter ihr Notfallbüro für die kommenden Wochen auf. Ein Szenario, das dieser Tage viele Familien kennen – und teilweise verfluchen. Doch die ungewohnte Familienkonstellation muss nicht in Stress ausarten. Homeschooling kann im Gegenteil viele Vorteile bergen, wenn wir das Lernen in die Hände der Kinder geben.

Temporäres Homeschooling als Chance

Laut Unesco hat aktuell und weltweit fast jeder zweite (Hoch-)Schüler aufgrund der Corona-Krise keinen Zugang mehr zu seiner Bildungseinrichtung. Die Folge: Der Unterricht findet zu Hause statt. Unesco-Generaldirektorin Audrey Azoulay erklärte gar, die Krise sei eine Gelegenheit, Bildung zu überdenken, Fernunterricht auszubauen und die Bildungssysteme widerstandsfähiger, offener und innovativer zu machen. So ist diese Ausnahmesituation – denn die deutsche Schulpflicht schließt Homeschooling normalerweise aus – auch aus unserer Sicht eine Chance, das Bildungssystem neu zu denken und den Lernenden in den Mittelpunkt zu stellen. Aber worauf kommt es beim nachhaltigen Lernen zu Hause an und was können Eltern, Lehrer und Schüler tun, um einen kühlen Kopf zu bewahren?

1. Rahmenbedingungen für nachhaltiges Lernen

Das Pauken in klassischen Strukturen setzt mit der Corona-Krise auf unbestimmte Zeit aus. Gleichzeitig überfordern sich Eltern im Home Office, die neben der Kinderbetreuung auch noch ihren Job meistern müssen. Warum nicht diesen Anlass nutzen und den Kindern das Vertrauen schenken, ihren Lernprozess selbst in die Hand zu nehmen? Studien zeigen, dass Schulen und Initiativen mit einem schülerzentrierten Unterricht bei Kindern und jungen Erwachsenen nachweislich eine höhere Lernleistung und ein höheres Engagement hervorbringen. Will heißen: Selbst und freiwillig angeeignetes Wissen, von den eigenen Interessen und Neugierde gesteuert, bleibt im Gedächtnis. Eltern ermöglichen dabei lediglich die Rahmenbedingungen, der Lernprozess wird von den Kindern intrinsisch selbst gesteuert.

2. Lehrplan ist nur ein Anhaltspunkt

Grundsätzlich gilt aktuell: Lehrer sind dazu angehalten, den vorgegebenen Schulstoff weiter zu vermitteln – wenn auch freier in der Gestaltung. Sie organisieren die neuen Abläufe, halten den Kontakt und übermitteln den Lernstoff so gut wie aktuell möglich. Die Durchführung handhaben Lehrer auf sehr unterschiedlichen Wegen: Während die einen physische Pakete mit Arbeitsmaterial für die kommenden Wochen bereitstellen, steigen die anderen auf digitalen Unterricht via Tools um. Oder probieren ganz neue Wege aus, wie jüngst ein Lehrer, der seinen Schüler mit einer VR-Brille ausstattete. Die Beispiele zeigen: Der Lehrplan birgt oft erstaunlich viel Spielraum – insbesondere in diesen Zeiten. Beim virtuellen Unterricht bietet es sich etwa an, mehrere Themen beziehungsweise Aufgaben zur freien Wahl bereitzustellen und den jeweiligen Lernweg den Kindern zu überlassen. Andererseits schaffen Eltern die Grundlagen für selbstgesteuertes Lernen, wenn sie angenehme Situationen und Umgebungen nutzen, um mit dem Kind in den (Lern-)Dialog zu kommen. Ein Spaziergang in der Natur bietet die Lerngrundlage für die Biologie von Pflanzen und Pilzen; beim Backen vermitteln Eltern physikalische Maßeinheiten –  Lernbeispiele aus dem Alltag gibt es zuhauf. In jedem Fall sollten Eltern und Lehrer in der aktuellen Phase eng zusammenarbeiten – und für einen kontinuierlichen Informationsaustausch sorgen, der etwa in von Lehrern organisierten, virtuellen Elternsprechstunden erfolgen kann. Das Ziel: Im Idealfall entsteht gemeinsam ein flexibel anpassbarer, grober Lehrplan für die kommenden Wochen, der berücksichtigt, dass das Lernen weitestgehend vom Kind gesteuert werden kann.

3. Arbeitstafel als Alltags- und Lernhelfer

Welche konkreten Maßnahmen im Alltag fördern die Selbstorganisation von Schülern? Die Haltung sollte zunächst sein: Die Kinder bestimmen selbst, an welchen Aufgaben und Themen sie wann arbeiten wollen. Wir beobachten, dass Selbstorganisation bei Kindern ungeahnte Potenziale freisetzt und in vielen Fällen das Engagement steigert.

Dabei unterstützt eine simple Arbeitstafel, etwa ein Whiteboard oder eine Pinnwand, die tabellarisch in die drei Spalten „Aufgaben“, „In Arbeit“ und „Erledigt“ unterteilt ist. Die Umsetzung gestaltet sich etwa so: Eltern setzen sich an jedem Sonntag mit den Kindern zusammen und planen gemeinsam die kommende Woche. Dabei überlegen sie, welche Aufgaben wichtig werden, schreiben sie auf Klebezettel und hängen sie in die linke Spalte. Wichtig ist der permanente Dialog. Spätestens bei der ersten erledigten Aufgabe ist das Kind unserer Erfahrung nach so motiviert, dass es auch die Erledigung der weiteren Aufgaben anstrebt.

4. Tägliche Struktur durch Abstimmungstreffen

Im nächsten Schritt versammelt sich die Familie zu einer kurzen, aber täglichen Absprache um die Arbeitstafel herum und bespricht gemeinsam, welche Aufgaben anfallen, welche „in Arbeit“ oder „erledigt“ sind. Das sogenannte Daily, bekannt aus der in der Wirtschaft angewandten Methode Scrum, sollte insgesamt nicht mehr als 15 Minuten in Anspruch nehmen. Folgende drei Fragen stehen dabei im Fokus: Was hast du gestern erreicht? Was hast du heute vor? Wie können wir dich dabei unterstützen? Die Aufgabenverteilung kann ebenso auf die ganze Familie erweitert werden, etwa bei Alltags- und Haushaltsaufgaben.

5. Lerngruppen unter Kindern bilden

Um neben Selbstorganisation auch den Teamgeist zu fördern, lohnen sich alternative Schülertreffen in Form von virtuellen Lerngruppen. Das hat zwei Vorteile: Zunächst leiden die sozialen Kontakte nicht allzu sehr, weil die Treffen mit Mitschülern und Schulfreunden nach wie vor stattfinden – wenn auch mit Einschränkungen. Andererseits stärkt der Austausch den Teamzusammenhalt und wirkt auch nach, wenn der analoge Unterricht wieder stattfindet. Lehrkräfte haben hier ebenfalls Spielraum: Die oben erwähnte Möglichkeit einer freien Themenauswahl kann auf virtuelle Lernteams, die sich freiwillig zusammenfinden, erweitert werden. So haben Schüler größtmögliche Freiheit bei der Umsetzung von Aufgaben und sehen ihre Schulfreunde als Sparringspartner. Auch die Rollenverhältnisse kehren sich in diesem Szenario um: Der Lehrer wird vom Lehrenden zum Coach.

Fazit

Ausnahmesituationen erfordern Flexibilität von allen Beteiligten. Mit ein paar simplen und einfach in den Alltag zu integrierenden Maßnahmen wird die gemeinsame Zeit strukturiert. Eltern und Lehrer schaffen die Rahmenbindungen – im Idealfall greifen sie dabei so wenig wie möglich in den Lernprozess des Kindes ein. Die Folge sind gestärkte Beziehungen und die Chance, auch in Zukunft mehr Selbstorganisation in den (Lern-)Alltag zu bringen. Kurz: Bildungspluralismus ermöglicht neue Sichtweisen und Zugänge – für die volatile Welt, in der wir leben, ist das unerlässlich, wie sich einmal mehr in dieser Krise zeigt.



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