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Queere Geflüchtete und die Coronakrise: „Ich habe mich noch nie einsamer gefühlt“

Queere Geflüchtete trifft die Coronakrise besonders hart, denn sie verstärkt ihre soziale Isolation. Oft hat das schwerwiegende Folgen für ihre Psyche.


„Das Bett ist gerade mein Lebensmittelpunkt“, sagt Livia, eine lesbische Frau aus Uganda, die derzeit in Bayern auf ihre Asylentscheidung wartet. Livia hat ihr kleines Zimmer, das sie mit einer anderen Frau in einem 200-Personen-Flüchtlingslager teilt, kaum verlassen, nachdem das Bundesland am 20. März wegen Covid-19 eine Ausgangsbeschränkung verhängt hat.

Ihr bisheriges Leben ist zum völligen Stillstand gekommen. „Ich verlasse mein Zimmer kaum, weil ich niemanden zum Reden habe. Dazu fürchte ich mich mit dem Virus zu infizieren, nachdem jemand in unserem Lager positiv getestet wurde. Wir können gerade nicht einmal mehr für uns selbst kochen“, sagt sie.

Tägliche sexuelle Belästigung

Als nicht geoutete lesbische Frau hat Livia auch Angst, dass ihre sexuelle Identität im Camp bekannt wird. Sie praktiziert „soziale Distanzierung“, seit sie 2018 in einem Asyl-Aufnahmezentrum in Deutschland ankam. Im Camp hat Livia nur eine Freundin - ebenfalls eine lesbische Frau.

Die Frauen auf ihrer Etage meiden sie, weil sie wegen ihrer Sexualität misstrauisch sind. Als alleinstehende Frau erlebt sie zusätzlich tägliche sexuelle Belästigung durch Männer, die sie in ihr Zimmer einladen oder kontinuierlich anzügliche Kommentare abgeben. "Also sitze ich einfach auf meinem Bett und warte", sagt sie. 
Ausgangsbeschränkungen zur Verringerung der Verbreitung von Covid-19 können LSBTIQ-Geflüchtete in unsicheren Umgebungen gefangen halten.

Hintergrund über das Coronavirus:

Während LSBTIQ-Personen aufgrund von Homo- und Transphobie in Aufnahme- und Gemeinschaftsunterkünften ohnehin oft sozial isoliert sind und Missbrauch erfahren, verschärft Covid-19 die Situation von LSBTIQ-Geflüchteten erheblich. Vor Covid-19 konnte Livia regelmäßig Deutschkurse und Treffen aufsuchen, die von einer lesbischen Organisation in der nahe gelegenen Stadt organisiert wurden.

Heute hat sie den Kontakt zur Außenwelt mehr oder weniger verloren. Die W-Lan-Verbindung in der Gemeinschaftsunterkunft ist miserabel. Unser 30-minütiges Telefonat wurde mehrmals unterbrochen. Sie kann weder Videos streamen noch soziale Medien nutzen. Ihre Mitbewohnerin und sie sprechen nicht dieselbe Sprache. Für Livia geht es bei Covid-19 nicht nur um ihre Gesundheit, sondern auch um Missbrauch und extreme Isolation, die sie in einer überfüllten Asyl-Unterkunft erlebt.

Die Forderung nach sozialer Distanzierung und zu Hause zu bleiben, zeigt abermals die besondere Gefährdung schutzbedürftiger Gruppen wie queeren Geflüchteten auf. Die wenigsten haben einen sicheren Ort, an dem sie Zeit mit Angehörigen verbringen können und wo sie die dringend benötigte Unterstützung finden, um die Krise zu bewältigen.

Existenzangst, weil die Einnahmen wegbrechen

Schon vor der Krise waren LSBTIQ-Geflüchtete besonders von sozialer Isolation betroffen: meist kommen sie alleine im Aufnahmeland an und haben keinen Kontakt mehr zu ihren Familien in ihrem Herkunftsland. In Deutschland angekommen erleben sie nicht nur Homo- und Transphobie, sondern auch Rassismus innerhalb und außerhalb  ihrer Unterkünfte.

Für Sam, einen 25-jährigen algerischen queeren Geflüchteten, der in der Nähe von Mannheim lebt, bedeutet Covid-19 Existenzangst, gerade als er dachte, mit seinem Leben ginge es aufwärts.

„Ich stecke gerade in einem Teufelskreis. Ich hatte endlich ein sicheres und sauberes Zimmer außerhalb meines Flüchtlingsheims gefunden, das im Grunde ein Containerdorf ist. Um dort einzuziehen, muss ich beweisen, dass ich meine eigenen Rechnungen bezahlen kann. Aber durch die Coronakrise habe ich mein gesamtes Einkommen verloren.

Er befürchtet, seinen Duldungsstatus zu verlieren. "Ich habe große Angst, dass ich wegen der Krise alles verliere und abgeschoben werde."

Verschlechterung der psychischen Gesundheit

Wie Livia und Sam sind queere Geflüchtete von den sozialen und ökonomischen Auswirkungen der Covid-19-Krise besonders betroffen. Gleichzeitig kann das Gefühl sozialer Isolation ebenfalls zu einer Verschlechterung des psychischen Gesundheitszustands und dem Wiederaufbrechen traumatischer Erfahrungen sexueller und körperlicher Gewalt oder Folter führen.

Die unangemessenen Lebensbedingungen, insbesondere das Teilen von Schlafzimmern, ohne einen sicheren Rückzugsraum, um allein zu sein und Traumata zu verarbeiten, tragen zur Zunahme von Depressionen und in einigen Fällen sogar zu Selbstmordgedanken bei LSBTIQ-Geflüchteten bei.

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Viele Geflüchtete haben in ihrem Herkunftsland Jahre in einem Ausnahmezustand gelebt. Rzouga, ein 25-jähriger tunesischer Aktivist und Visagist, der unter dem Namen Shayma als Drag-Performer arbeitet, sagte: „Was wir jetzt in dieser Krise sehen, erinnert mich an die Revolution, die ich in meinem Land erlebt habe; der Angstzustand, die erschreckende Nachrichtenlage und die rasante Geschwindigkeit, mit der neue Vorschriften und Maßnahmen eingeführt werden, sind äußerst beängstigend.”

In Unterkünften wie diesen leben die Geflüchteten.
In Unterkünften wie diesen leben die Geflüchteten.

© Arne Dedert/dpa

Rzouga macht deutlich, dass für ihn es noch schwieriger ist, einen solchen Ausnahmezustand in einem Land zu erleben, in dem man neu ist und keine Familie hat: „In meinem Heimatland war es einfacher mit der Situation umzugehen, weil Familie und Freunde sich in der Krise unterstützen. Hier ist es anders; ich habe mich in meinem Leben noch nie einsamer und isolierter gefühlt, zumal ich praktisch nichts machen kann, um mich besser zu fühlen, wie unter Menschen oder feiern zu gehen. Mein Leben ist eingefroren, gerade in dem Moment, als ich dabei bin, durchzustarten.“

Das Leben steht still, kein Ausweg in Sicht

Ähnliches beschreibt auch Angel, eine 38-jährige lesbische Frau aus Jamaika: „Ich habe das Gefühl, dass ich jedes Mal, wenn ich einen Schritt vorwärts mache, drei Schritte rückwärts machen muss. Es ist wirklich deprimierend, das Leben steht still und es gibt gerade keinen Ausweg.“

Angel hatte angefangen, die Kontrolle über ihr Leben zurückzugewinnen. Nachdem sie 14 Monate in einem abgelegenen und isolierten Unterkunftszentrum gelebt und schwere Depressionen mit Selbstmordgedanken überwunden hatte, fand sie eine Wohnung in einer größeren Stadt, die es ihr ermöglichte, endlich mit der LSBTIQ-Community in Kontakt zu kommen.

Einige Monate später wurde ihr von einem Gericht der Flüchtlingsstatus anerkannt und sie begann ihren Integrationskurs. Dann kam die Covid-19-Krise… Auch für Angel wirkt sich die Situation nachteilig auf ihre psychische Gesundheit aus.

Andere LSBTIQ-Geflüchtete befürchten, ihren Arbeitsplatz zu verlieren. Rami, ein 42-jähriger syrischer Geflüchteter, der in der Nähe von Heidelberg lebt, sagt: „Die Coronakrise hat sich auf meinen Jobsektor ausgewirkt, so dass ich meinen Job verloren habe. Ich weiß nicht für wie lange, da ich nicht gut deutsch spreche und von der Situation überfordert bin. Wer wird meine Miete bezahlen und von was werde ich die nächsten Monate leben? Ich fühle mich völlig verloren und meine Zukunftspläne geraten alle ins Rutschen.“

Viele befürchten wie Sam, dass sich dies negativ auf ihren Aufenthaltsstatus auswirken könnte.

Die Verletzlichkeit queerer Geflüchteter mitdenken

Trudy Ann, eine lesbische Frau aus Jamaika, hat seit Beginn der Coronakrise nicht mehr jeden Tag genug zu Essen. Sie wartet noch auf ihren Lohn für Aufgaben, die sie in der Asylunterkunft leistet.

Die Büros in der Unterkunft sind geschlossen, wodurch ein weiteres Sicherheitsnetz für queere Geflüchtete wegfällt und sie so Missbrauch und Drohungen schwieriger melden können.

Es ist daher wichtig, dass die Reaktionen auf Covid-19 die Verletzlichkeit und Bedürfnisse schutzbedürftiger Gesellschaftsgruppen anerkennt und diese bei der Entwicklung von Schutzmechanismen mitgedacht werden. Nicht alle haben ein „sicheres Zuhause“, in dem sie mit ihren Lieben eine solche Krise bewältigen können.

Es muss sichergestellt werden, dass LSBTIQ-Geflüchtete weiterhin Zugang zu psychologischer und gesundheitlicher Versorgung wie Hormonbehandlungen sowie sozialer und rechtlicher Beratung haben, um ihre extreme Isolation und das Risiko einer Retraumatisierung zu minimieren.

Nina Held lehrt und forscht an der Universität Sussex innerhalb des Projekts „Sexual Orientation and Gender Identity Claims of Asylum“. Mengia Tschalaer ist Research Fellow an der Universität Bristol und arbeitet derzeit am Forschungsprojekt "Queer Asylum Spaces in Berlin“. Danijel Ćubelić ist Fachbereichsleiter für Antidiskriminierung und Diversity Management sowie Beauftragter für LSBTTIQ beim Amt für Chancengleichheit der Stadt Heidelberg.

Nina Held, Mengia Tschalaer, Danijel Ćubelić

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